Projektstory
Totalabriss?
Viele Limmattaler Wohnsiedlungen sind unter Druck. Günstiger Wohnraum wird durch teuren ersetzt. Das hat Auswirkungen auf das Zusammenleben. Ein Projekt greift das Thema auf und unterstreicht die Verbundenheit der Menschen untereinander.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er ist eingebunden in eine Gemeinschaft und vieles, was er tut, ist dieser Einbindung geschuldet. Die Bewohnerinnen und Bewohner einer Wohnsiedlung machen da keine Ausnahme. Sie bilden eine Gemeinschaft, die vielfältige zwischenmenschliche Beziehungen umfasst. Manche dieser Verhältnisse sind lose, andere sind stark. Wieder andere schwanken zwischen diesen zwei Polen – und ein Teil der Bewohnerschaft möchte ohne Kontakt zu den Nachbarn leben.
«Das ist eine Facette der sozialen Realität einer Siedlung», sagt Philippe Koch. «Beziehungen bestehen auch zur äusseren Nachbarschaft, zu Menschen, die um die Überbauung herum leben oder dort regelmässig anzutreffen sind. Beziehungen existieren auch zu Personen, die sich in der Siedlung aufhalten, aber nicht dort wohnen. Insgesamt stehen all diese Verbindungen für ein spezifisches Zusammenleben. Das prägt den Alltag und den Ort.»
Ein tiefer Einschnitt
Philippe Koch ist Professor an der ZHAW und hat das Projekt «Wohnen im Limmattal» mit lanciert. Etliche Wohnüberbauungen des Limmattals stehen vor einem grossen Umbruch mit erheblichen Folgen (siehe Box). Reicht eine Instandsetzung? Müssen sie totalsaniert werden? Ist einzig ein Abbruch und Neubau sinnvoll? Ist ein Neubau bewusst gewünscht? Solche Fragen stehen im Raum. Angestrebt wird in der Regel eine nachhaltige Lösung.
«Für welche Lösung man sich auch entscheidet, ausschlaggebend sind aktuell energetische und ökonomische Überlegungen. Die soziale Dimension der Nachhaltigkeit findet kaum Beachtung. Und das ist ein Problem», erklärt der Politikwissenschaftler.
«Wohnt zum Beispiel der Fussballtrainer einer Jugendmannschaft in einer betroffenen Siedlung, zieht er womöglich weg, falls die Siedlung abgerissen wird. Die jungen Fussballer stehen plötzlich ohne Trainer da und dem Klub droht, keinen Ersatz zu finden – auch weil die Trainerstelle nur an Ehrenamtliche vergeben wird und die nicht einfach zu finden sind.»
Jeder Umbruch ist ein Einschnitt. Eingegriffen wird in das über Jahre gewachsene, ortsgebundene Zusammenleben. Dieses soziale Gewebe ist eine Ressource und besitzt einen eigenen Wert. Mit jedem Eingriff droht die Gefahr, dass es zerfällt – mit weitreichenden Folgen für Mensch, Quartier und Gemeinde.
Etwas verändert sich
Seit wenigen Jahren beobachtet Koch Anzeichen eines Umdenkens. Er sagt: «Soziale Zusammenhänge erlangen eine gewisse Wichtigkeit. Das hat damit zu tun, dass dort, wo abgerissen und neu gebaut wird, die Mietpreise steigen. Die alte Mieterschaft kann sich den neuen Wohnraum nicht leisten, eine zahlungskräftigere zieht ein. Mit einem Mal wandelt sich die Bewohnerschaft der Siedlung, womit sich das Alltagsleben vor Ort verändert. Damit verschwindet das alte soziale System mit seinen wertvollen Bezügen. Zugleich spitzt sich die Lage am Wohnungsmarkt zu. Wo findet die alte Mieterschaft noch freien, günstigen Wohnraum? Mit solchen Herausforderungen sind die Gemeinden konfrontiert und auch überfordert.»
Noch steckt dieses Umdenken in den Kinderschuhen. Mehr als Ansätze sind es nicht. In den Gemeindeverwaltungen, insbesondere ausserhalb der grossen Zentren, fehle es an Ressourcen, sich mit den Fragen der sozial nachhaltigen Transformation von Wohnsiedlungen eingehend zu befassen, so der ZHAW-Professor. «Das Thema ist alles andere als einfach. Jedes Zusammenleben ist komplex und die Situation in der Agglomeration unterscheidet sich deutlich von der in den Zentren. Die Beschreibung des Zusammenlebens ist kompliziert.»
Und tatsächlich: Wie bemisst man Ressourcen wie generationenübergreifenden Dialog oder Nachbarschaftsnähe? Welchen Stellenwert weist man öffentlichen oder gemeinschaftsorientierten Begegnungsorten im Siedlungsraum zu? Wie erschliesst man die Fähigkeit einer Gemeinschaft, dem einzelnen Menschen Orientierung und Sicherheit zu geben? Und wie überschaut man Effekte im gelebten Alltag, die sich erst Jahre nach einem Entscheid einstellen?
Der Aufwand zur Erfassung solcher Aspekte ist erheblich. Die Mechanismen gängiger Entscheidungsstrukturen – meistens basierend auf Kennzahlen und Messgrössen – geraten an ihre Grenzen. Ein Scheitern ist daher nicht von der Hand zu weisen, eben weil soziale Wechselbeziehungen mit Kennzahlen und Messgrössen nicht einfach und klar beschreibbar sind.
Praxisgerechte Kriterien definieren
Philippe Koch und seine Kolleginnen und Kollegen sorgen hier für Abhilfe. «Wir haben uns zum Ziel gesetzt, einen Kriterienkatalog für die sozial nachhaltige Transformation von Bestandsbauten aufzustellen. Künftig sollen Fachleute, die über die Zukunft einer Wohnüberbauung entscheiden, mit diesem Katalog arbeiten. Vorzustellen hat man sich den Katalog als Factsheet, vielleicht im A4-Format. Er listet die wesentlichen Punkte auf, die man Punkt für Punkt durcharbeiten sollte, bevor man eine Entscheidung über die Entwicklung der Siedlung fällt.»
Doch welche Kriterien führt der Katalog an?
Koch dazu: «Wir sind daran, die Kriterien zu erarbeiten. Zuerst wollen wir jedoch in Erfahrung bringen, welchen Wert unterschiedliche Akteure mit Bestandssiedlungen in Verbindung bringen. Wir formulieren die Kriterien also nicht am Schreibtisch, wir gehen von der Praxis aus.»
Ein Kriterium werde laut Koch mit Sicherheit die «Information und Kommunikation» betreffen. Er sagt: «Indem man die Bewohnerschaft der Siedlung frühzeitig in die Beratungen einer geplanten Transformation einbezieht, lassen sich Bedürfnisse abholen, Anregungen zu Umsetzungsideen sammeln, Fragen klären und dem Zusammenleben den Puls fühlen. Diese Informationsarbeit ist zentral und dafür müssen geeignete Gefässe etabliert werden. Kommunikation schafft Vertrauen und trägt dazu bei, dass die Bewohnerschaft sich ernst genommen fühlt und bessere Lösungen gefunden werden.»
Ein weiteres Kriterium könnte das Thema «Sozialwohnungen» berühren. Familien, Personen im Ruhestand und Alleinerziehende sind auf günstigen Wohnraum angewiesen. Wird dieses Kriterium berücksichtigt, bietet ein möglicher Neubau Platz für das soziale Wohnen.
Begegnungen ermöglichen
Ähnlich wichtig ist die Tatsache, dass ein neues Wohnangebot flexibel gestaltet werden muss. «Die Ansprüche der Bewohnerschaft verändern sich mit jeder Lebensphase. Multifunktional nutzbare Wohnungen sind die Antwort darauf. Vielleicht reicht eine entsprechend gestaltete Teilrenovierung oder ein Ergänzungsbau statt Abriss und Neubau.»
Nicht zu vernachlässigen ist ferner ein Kriterium wie «Begegnungsräume». Grüne Freiräume etwa bieten speziell Kindern und Jugendlichen einen Ort, um sich zu treffen und gemeinsam Zeit zu verbringen. Sie fördern das Miteinander, das Erleben in der Natur und tragen zur Attraktivität einer Wohnüberbauung bei. Sie zu sichern, ist ein Gebot der Stunde, auch aus klimarelevanten Gründen.
Als Zwischenfazit hält Koch fest: «Der Kriterienkatalog muss auf die Praxis ausgerichtet sein. Alles andere wird sich nicht durchsetzen. Neben den Behörden in Gemeinden, Städten und Kantonen zählen auch Bauherrschaften, Planende oder Immobilienverwaltungen zum Zielpublikum unseres Katalogs.»
Stabilität im Wandel
Dass die soziale Dimension der Nachhaltigkeit nach vorn zu rücken ist, liegt dergestalt auf der Hand. Wer ihr Rechnung trägt, macht den Weg frei für eine umsichtigere Weichenstellung. Vielleicht kommt man am Ende des Entscheidungsprozesses zum Schluss, dass es mit einer sanften Sanierung getan ist.
Ein gemeinsamer Nenner der Vorteile einer solchen Lösung könnte «Stabilität» heissen: Die Bewohnerschaft bleibt am Ort wohnen und schmiedet langfristige Pläne. Eine stabile Mieterschaft verringert für die Eigentümerin den Verwaltungsaufwand. Und die Gemeinde könnte von einem stabilen sozialen Gewebe profitieren, das über die Siedlungsgrenze hinausreicht, vorausgesetzt, die Gemeinde betrachtet das als wesentlich für die eigene Entwicklung.
«Wir sind selbst auf die Ergebnisse des Projekts gespannt», resümiert Koch. «Ende dieses Jahres wird die erste Version des Katalogs vorliegen. Erarbeitet wird er im Zuge von Sanierungsentscheiden über zwei Siedlungen im Limmattal.» An einem derart praxisorientierten Projekt habe er als Forscher übrigens noch nie mitgearbeitet. Auch für ihn sei das Ganze ein Novum.
«Die Finanzierung des Projekts bleibt schwierig und der Aufwand ist gross. Dass wir das Projekt im Rahmen der Regionale 2025 umsetzen, ist allerdings ein Vorteil. Wir profitieren von deren Netzwerk und versprechen uns einiges von der Kommunikation, die rund um die Regionale 2025 entsteht, nicht bloss im Limmattal, sondern auch darüber hinaus.»
Denn eines ist klar: Je häufiger der Kriterienkatalog künftig genutzt wird, desto besser. Erst in der Praxisanwendung zeigt sich dessen Güte und die gesammelten Erfahrungen schaffen die Grundlage für Verbesserungen. Anfang 2025 ist im Limmattal ein erster Schritt in dieser Sache getan. Dank dem ZHAW-Projekt übernimmt die Regionale 2025 ein weiteres Mal eine Pionierrolle.
Das Projekt
Das Projekt «Wohnen im Limmattal» geht auf eine Initiative der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur zurück. Im Fokus steht die Frage, wie es mit den in die Jahre gekommenen Wohnüberbauungen im Limmattal weitergeht und inwieweit die soziale Dimension der Nachhaltigkeit hierbei Beachtung findet? Zwischen 1950 und 1980 wuchs die Limmattaler Bevölkerung von 50 000 auf über 110 000 Personen. Fast die Hälfte des aktuellen Wohnungsbestands stammt aus dieser Zeit und bietet heute Wohnraum zu vergleichsweise günstigem Mietzins. Eine Reihe dieser Siedlungen steht vor einer grossen Transformation. Bei Entscheidungen über ihre Weiterentwicklung zählen primär bauliche, energetische und finanzielle Aspekte. Meist werden die Siedlungen abgerissen, um Platz zu schaffen für die Verdichtung durch Neubauten mit weniger günstigem Wohnraum. Derart wird die alte Mieterschaft verdrängt, da die Betroffenen die höheren Neubaumieten nicht zahlen können. Das Projekt möchte einen Kriterienkatalog erstellen, der das bestehende Sozialgefüge einer Siedlung erfasst. Diese Kriterien sollen bei betreffenden Entscheidungen mitberücksichtigt werden. Das Projekt startete im Januar 2024, dauert ein Jahr und ist für die Projektschau der Regionale 2025 nominiert. (Wohnen im Limmattal)
Die Person
Philippe Koch lehrt und forscht am Institut für «Urban Landscape» der ZHAW – Departement «Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen». Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit Jahren mit den politischen und sozialen Fragen, die die Raum- und Stadtentwicklung aufwirft. Das Thema Urbanisierung – eine grosse Herausforderung im Limmattal – spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Das Team
An der ZHAW zhaw.ch (Institut für «Urban Landscape») arbeitet Philippe Koch im Team zusammen mit Mirjam Niemeyer und Andreas Jud am Projekt «Wohnen im Limmattal».