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Herr Bosshard, Sie galten früher als schnellster Kassettenwechsler der Schweiz.
Wieso?
Ich war eine Art DJ, der mit Kassetten arbeitete. Ich schloss mehrere Kassettengeräte zusammen und bediente sie gleichzeitig. Darin erlangte ich eine gewisse Fertigkeit, das heisst, ich war sehr schnell. Ich gründete eine Band und wir spielten 15 Jahre lang sehr erfolgreich. Wir experimentierten mit Klängen und Geräuschen. Wir spielten auf Dächern, in Unterführungen, ja sogar in Bunkern. Das war in den 1980er-Jahren.

Sie sprechen von Ihrer Band «Nachtluft»?
Genau.

Was ist ein Klang?
Das Wort Klang beschreibt alle Töne, die wir gernhaben. Das Gegenteil wäre der Lärm, Töne, die uns stören. Wobei die Grenzen zwischen Klang und Lärm fliessend sind. Manche mögen das Krachen eines Feuerwerks, andere können es nicht ausstehen.

Lärm könnte folglich auch Klang sein.
Natürlich. Wir sind es, die definieren, was Klang und was Lärm ist. Das legen wir als Gesellschaft fest. Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man über Lärm spricht.

Ihr Leben ist verschränkt mit Klängen. Wie fühlt sich das an?
Klänge «haben» mich, und zwar immer! Ich spüre sie – beim Träumen, Aufwachen, Aufstehen, tagsüber. Klänge sind ein Universum und dieses Universum umgibt mich und verändert mich. Es begleitet mich überallhin. Klänge können Menschenstimmen sein, eine Gabel, die auf den Teller gelegt wird, oder ein Wassertropfen, der auf den Boden fällt – einfach alles. Es ist ein wunderbares Gefühl.

Besitzt ein Klang etwas, was ein Bild oder ein Wort nicht aufweist?
Ein Klang geht weiter als ein Bild oder ein Wort. Der Mensch hat die Fähigkeit, sich in den Klang hineinzuversetzen, er ist sozusagen im Klang drin. Denken wir an das Gesprochene: Wir erfassen nicht nur die Wörter, sondern auch die Tiefe oder den Rhythmus der Stimme. Das weckt Gefühle und diese Gefühle verbinden den Menschen mit dem Klang.

Sie bezeichnen sich als Klang-Gärtner. Wie kommt das?
Um die Jahrtausendwende durfte ich mit einem Gärtner des berühmten Boboli-Gartens in Florenz zusammenarbeiten. Ich merkte rasch, dass er eine besondere Haltung gegenüber Pflanzen hatte: Morgens, nachmittags und abends schaute er nach ihnen, er hegte und pflegte sie. Genau das wollte ich anschliessend auch erreichen, Alltagsklänge hegen und pflegen. Das ist seither meine Maxime.

Hat es nicht auch mit Japan zu tun? Dort werden Gärtner als Künstler angesehen.
Das spielt auch eine Rolle. Die Komposition eines Gartens wird in Japan als hohe Kunst respektiert. Das kann man direkt auf Klänge übertragen, was ich auch tue. Aber ich will die Klänge nicht beherrschen. Für mich ist jeder Klang ein Wesen. Er hat mir etwas zu sagen und ich muss ihm zuhören. Ich führe ein Zwiegespräch mit ihm. Das passiert mir auch im Limmattal, soll ich das erzählen?

Bitte.
Stehe ich auf dem Altberg, erfasst mich jedes Mal das Raunen, das durch das Tal geht. Darauf muss ich mich einlassen. Ich erkenne seine Vielfalt, ich lasse es auf mich wirken und setze mich damit auseinander. Dann ist es nicht mehr bloss etwas Störendes, sondern ein Klang. Ein Fingerabdruck des Limmattals.

Was bedeuten Ihnen Stille und Ruhe?
Absolute Stille ist ein Schrecken, ich habe das zweimal erlebt. Ist die Stille aber nicht absolut, dann entdeckt man Geräusche, die man sonst überhört, und das begeistert mich. Ruhe anderseits hat mit Vertrauen zu tun. Befinde ich mich an einem Ruheort, kann ich davon ausgehen, dass kein störendes Geräusch auftaucht, kein Vorbeidonnern eines Lastwagens, kein Hochfahren eines Rasenmähers. Das Projekt «Ruheorte. Hörorte.» will solche Orte im Limmattal auf einer Karte zusammenhängend erfassen.

Ruhe gleicht also einer Einladung.
Richtig. Man darf darauf vertrauen, dass man etwas Spezielles erlebt an einem Ruheort. Ich sage hier bewusst «speziell», denn im Limmattal grenzt der Lärm aus, und das ist das Normale.

Wie meinen Sie das?
Die Schneisen für die Verkehrsachsen sind besetzte Landschaftsräume. Sie grenzen den Menschen aus. Diese Verkehrsachsen stehen für den Lärm, das Hintergrundrauschen, von dem alle reden. Das heisst, der Lärm grenzt den Menschen aus. Und wo man ausgegrenzt wird, fühlt man sich nicht zu Hause. Das ist die grosse Herausforderung des Limmattals!

Sie mögen den Begriff «Lärmschutz» nicht. Wieso nicht?
Das hängt damit zusammen. Lärm ist eine Tatsache. Er gehört offenbar zu der Art und Weise, wie wir gerade leben. Man kann ihn nicht hinter Lärmschutzwänden wegsperren, die notabene sehr teuer sind und wieder nur trennen. Das ist Unsinn! Wir müssen lernen, in unserer Umgebung so zu leben, dass der Lärm uns nicht gegenseitig ausgrenzt. Deshalb spreche ich von Klangraumgestaltung. Das ändert den Blickwinkel. Ich möchte alle dazu einladen, jedes Alltagsgeräusch als Klang zu begreifen und zu erleben, sodass wir diesen gemeinsamen Klangraum aktiv gestalten können. Das wäre einfach wunderbar und wir schaffen das!

Wie setzt man das um?
Ich, Andres Bosshard, habe nicht die ultimative Lösung dafür. Wie gesagt, wir müssen diese Umsetzung gemeinsam gestalten. Ich benötige die Unterstützung anderer Menschen, denn alle können etwas dazu beitragen. Wir müssen zusammenarbeiten, daraus entsteht etwas Grossartiges. Das ist immer so.

Sie haben Klangspaziergänge in Dietikon durchgeführt. Was erlebt man bei einem
solchen Spaziergang?
Etwas vorweg: Die Lärmemissionen einer Stadt sind nicht naturgegeben. Es ist der Mensch, der den Lärm verursacht, und wir sind alle daran beteiligt. Dieser Lärm ist Teil des Klangs von Dietikon. Hinzu kommen andere Geräusche, natürliche Geräusche, in Dietikon etwa das Rauschen der Reppisch. Während des Spaziergangs mache ich auch auf diesen Stadtklang aufmerksam.

Sie fordern also auf, genau hinzuhören.
Nicht nur. Es geht um viel Grundsätzlicheres: Viele Menschen sind notorische Weghörer. Ihr Gehör ist darin geübt, alles wegzufiltern, was nicht benötigt wird. Sie müssen deshalb das Hinhören wiederentdecken.

Wie schafft man das?
Wir stellen uns zum Beispiel auf den Dietiker Bahnhofplatz und achten bewusst auf die Stimmen der Passanten oder die Geräusche der abfahrenden Busse. Manchmal fordere ich auf, mit Pylonen am Ohr zu hören. Das hilft, den Fokus auf bestimmte Klänge zu richten und die Tiefe des Raums wahrzunehmen.

In diesem Zusammenhang sprechen Sie von «akustischem Guthaben».
Jeder Klang gleicht einem Aktivposten dieses Guthabens. Das ist die Idee dahinter. Das lässt sich auf das Limmattal übertragen. Wir sollten seine Klanglandschaft als «akustisches Guthaben» betrachten und es für unser Wohlergehen einsetzen. Wir nehmen ja nur ei Prozent davon wahr, 99 Prozent bleiben unentdeckt. Was für eine Verschwendung!

Haben Sie deshalb die Idee eines Klangwegs durch Dietikon lanciert?
Ja. Der Klangweg wäre eine Einladung, dieses Guthaben zu nutzen. Darüber hinaus würde man die Vielschichtigkeit des Dietiker Stadtklangs erleben. Anstatt ins Auto oder in den Bus zu steigen, würde man den Weg hinunterschlendern und horchen. Das Ziel ist, den Weg akustisch so zu planen, dass er zum Erlebnis wird. Ein solches Hinhören ist erholsam, man vergisst dabei den Alltag. Viele Klänge geben obendrein Rätsel auf, denen man nachgehen kann. Jeder Mensch findet darin eine persönliche Bedeutung. Das garantiere ich!

Sie führen seit mehr als zehn Jahren Klangspaziergänge durch. Wie sehen die
Reaktionen der Teilnehmer aus?
Überraschung und Staunen sind immer dabei. Wie gesagt, wir sind Meister des Wegfilterns. Wir sind mit unseren Gedanken ganz woanders, aber nicht dort, wo wir uns gerade befinden. Beim Klangspaziergang zählt dagegen jeder Schritt; man macht einen Schritt, bleibt stehen und horcht. Das unterbricht die Hektik, die uns umtreibt. Wir gehen langsamer, denken nicht schon an das Ziel, sondern erleben das Jetzt.

Das klingt nach Zen.
Dieses Zen gibt es vor der Haustür und noch dazu gratis. Will sich das Limmattal positiv entwickeln, müssen wir aus dieser Hektik herausfinden. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Hör- und Ruheorte machen dafür einen Anfang. Es liegt an uns. Die Klänge sind da. Sie warten auf uns.